Interview: Wohn- und Architekturpsychologie

Wegweiser für mehr Qualität menschlicher Lebensräume

Was macht die gebaute Umgebung mit uns? Welche Wirkung haben Räume, Außenbereiche? Wie können sie unser Zusammenleben und Arbeiten positiv beeinflussen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Innenarchitektin Nina Marggraf aus Esslingen. Sie interessiert der menschliche Aspekt von Bauprojekten. Daher hat sie sich am Institut für Wohn- und Architekturpsychologie (IWAP) in Graz zur Expertin ausbilden lassen und berät Bauträger:innen, Architekt:innen und alle, die Bedarf haben – privat, im Wohnungs- oder Gesundheitswesen.

Sie sind Innenarchitektin, wie kamen Sie zur Architektur- und Wohnpsychologie?

Seit meinem Studium an der Hochschule für Technik in Stuttgart beschäftige ich mich mit der Gestaltung von Räumen, der Wirkung von Farbe, Material und der Architektur von Gebäuden. Bei vielen Projekten fehlt mir der menschliche Aspekt. Wenn man für Menschen plant, müssen sie und ihr Wohlbefinden im Mittelpunkt stehen. So bin ich auf die Wohn- und Architekturpsychologie gestoßen.

Welchen Stellenwert hat das Thema für Sie innerhalb der Architektur?

Anders als beim Feng-Shui – ein eher philosophischer Ansatz – handelt es sich hier um eine Wissenschaft. Die Wohn- und Architekturpsychologie erforscht, wie die gebaute Umwelt auf Menschen und ihr Denken, Fühlen und Handeln Einfluss nimmt. Ziel ist es, auf Basis wissenschaftlicher Studien menschenfreundliche und gesundheitsfördernde Räume zu schaffen, die das soziale Leben unterstützen und bereichern. Dabei bedienen wir uns eines interdisziplinären Ansatzes mit Anleihen beispielsweise aus der Neurowissenschaft oder der Wahrnehmungs- und Umweltpsychologie und verbinden es mit den Disziplinen Architektur, Innenraumgestaltung, Städtebau und Raumplanung.

In welche Bereiche des Bauens spielt die Wohnpsychologie hinein?

Räume haben erwiesenermaßen einen großen Einfluss auf unser Befinden. Aus Studien weiß man, dass sie uns bestenfalls stimulieren, beruhigen oder zur Heilung beitragen können, etwa bei Burn-out oder ADHS. Gerade während des Lockdowns wurde vielen klar, dass ihre Wohnung nicht optimal auf die jeweiligen Bedürfnisse von Älteren, Kindern oder Berufstätigen passt. Wenn wir mehr humane Qualität in Gebäude und Quartiere bringen, dann fördert das die Wohnqualität, die Erholung, das soziale Klima, die Entwicklung und das Engagement der Bewohner:innen. Im Gegenzug sinken Instandhaltungskosten, Aufwand für Beschwerdemanagement und Sicherheitsmaßnahmen. Mit der Nutzungsqualität lassen sich ganz klar das Wohlbefinden der Bewohner:innen sowie die Akzeptanz und der Wert einer Immobilie steigern. Das ist auch für Projektentwickler interessant.

Wie lassen sich die entsprechenden Parameter messen?

Mit der Humanwissenschaftlichen Qualitätsanalyse analysieren wir auf acht Ebenen, wie ein Gebäude oder ein Quartier mit seinen Freiflächen wirkt und das Befinden und Verhalten von Menschen beeinflusst. Lassen Sie mich das am Beispiel eines bekannten Wohngebäudes mit Geschäftslokalen in Wien verdeutlichen. Nach dem Erstbezug stand es lange Zeit leer, an bestimmten Fassadenteilen gab es immer wieder Graffiti. Mit einer HQA im Vorfeld hätte man erkennen können, dass es im öffentlich zugänglichen Erdgeschoss etwa mehrere kontrollarme Bereiche gibt, die zu sogenannten Angsträumen werden können und Vermeidungsverhalten fördern. Auch fehlen soziale Interaktionsräume im Innern und im Freien, was Isolation fördert, und es gibt kaum Aneignungsmöglichkeiten für die Bewohner:innen, um nur wenige Punkte anzuführen. Humane Qualität kann man voraussagen – und ein Gebäude verteuert sich auch nicht, wenn man bestimmte Aspekte berücksichtigt.

Wo sehen Sie die wichtigsten Stellschrauben, um Städte und Wohnquartiere für alle Generationen lebenswert zu machen?

Menschen sind soziale Wesen, ohne Kontakte fühlen sie sich nicht wohl. Aber nur Gemeinschaftsflächen zu schaffen, reicht nicht aus, die Interaktion muss angeregt werden mit spezifischen Angeboten und der entsprechenden Gestaltung. Gleichzeitig brauchen wir neben kommunikativen Zonen auch private Bereiche, in die wir uns zurückziehen können. Ein besonders wichtiger Punkt ist der Naturbezug in unseren Städten. Natur erhöht den Erholungseffekt und reduziert Stress. Grünflächen, begrünte Fassaden, da wird schon viel getan, aber das müssen wir weiterverfolgen. Da wir die meiste Zeit in Innenräumen verbringen, sind gerade hier sensorische Stimuli unverzichtbar für unser Wohlbefinden. Und wenn dies nicht möglich ist, über den Einsatz entsprechender Farben und Materialien.

Zukunftsfähiges Wohnen, neue Wohnformen, nachhaltige Materialien: Welche Aspekte sind für Sie dabei wichtig?

Gemeinschaftliche Projekte sind zukunftsfähig. Ich sehe einen großen Bedarf beim Wohnen für die Altersgruppe 50+, Co-Living, Generationenwohnen. Hier die geeigneten Formate zu finden, bleibt eine Herausforderung. Auch Menschen, die in einer Umbruchsituation im Leben sind, benötigen Beratung. Passt meine Wohnsituation noch zu den aktuellen Bedürfnissen? Auch wenn sich viel verändert, muss man nicht gleich umziehen oder neu bauen. Die bestehende Wohnung oder das Haus lassen sich oft an die neue Lebenssituation anpassen.

Mein Rat: Mutig sein, Prozesse und Abläufe neu definieren, mehr ausprobieren, Emotionen zulassen, Wohnformen neu denken. So kommen wir zu einem neuen und vielleicht besseren Miteinander.

Nina Marggraf studierte Innenarchitektur an der Hochschule für Technik in Stuttgart und absolvierte ein Praxissemester in Rom. Sie arbeitet im Architekturbüro Marggraf Architektur in Esslingen, Leipzig und Bratislava www.marggraf-architektur.de/ und hat sich auf das Geschäftsfeld Wohn- und Architekturpsychologie spezialisiert. Sie ist Mitglied des Instituts für Wohn- und Architekturpsychologie IWAP in Graz www.iwap.institute/.

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