Interview: „Um den Verkehr nachhaltiger zu gestalten, muss es ein Zusammenspiel von verschiedenen Ansätzen geben“

Interview mit Dr.-Ing. Tim Böltken, Geschäftsführer der INERATEC GmbH

Im ersten Teil unseres Interviews mit INERATEC-Chef Dr.-Ing. Tim Böltken ging es um synthetische Kraftstoffe, Wasserstoff und neue Tankstellen und Ladepunkte. Wir wollten außerdem von ihm wissen:

Warum sind Veränderungen so dringend notwendig und worauf muss dabei Rücksicht genommen werden?

Der Klimawandel mit Bränden in Australien und in Sibirien zeigt uns, dass wir jetzt handeln müssen, um die Mobilität für unsere Zukunft nachhaltig zu gestalten. Wir wollen die bestehende Infrastruktur und Antriebstechnologie nutzen, um die Energiewende im Verkehr jetzt umzusetzen. Allein in Deutschland gibt es knapp 48 Millionen Autos, die man nicht mal eben schnell ersetzen kann. Aber man kann sie im Sinne der Nachhaltigkeit weiterbetreiben – eben mit einem synthetischen Kraftstoff. Ergänzt wird das durch die Nutzung von E-Autos auf Kurzstrecken in der Stadt und dadurch, dass viele Menschen aufs Fahrrad und den öffentlichen Nahverkehr umsteigen. Wir sehen, dass der Drang zur individuellen Mobilität ungebrochen ist. Es gibt Prognosen, wonach es in den nächsten Jahren 100 Millionen mehr Fahrzeuge weltweit geben wird. Und egal, ob diese Prognosen stimmen oder nicht, wir können nun entweder abwarten, bis die komplette Flotte durch elektrische oder wasserstoffbetriebene Fahrzeuge ersetzt ist, oder jetzt damit beginnen, bestehende Fahrzeuge klimafreundlich zu fahren. Mit den synthetischen Kraftstoffen können – auch in Ländern mit einer schwachen Lade-Infrastruktur – bestehende Autos, Motorräder oder Transporter umweltfreundlicher genutzt und der Wunsch und oftmals auch die Notwendigkeit nach individueller Mobilität gelebt werden. Um den Verkehr insgesamt nachhaltiger zu gestalten, muss es ein Zusammenspiel von verschiedenen Ansätzen geben: E-Autos, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und nachhaltige synthetische Kraftstoffe.

Nachhaltige Mobilität ist ohne die Automobilbranche nicht möglich. Wie ist Ihre Erfahrung in der Zusammenarbeit?

Deutschland wird in diesem Zusammenhang mit Argusaugen betrachtet, da wir jahrzehntelang den Fortschritt vorangetrieben und Innovationen entwickelt haben, die maßgeblich für Verbrennungsmotoren waren. Aus Sicht der Automobilhersteller ändert sich beim Einsatz von synthetischen Kraftstoffen erstmal nichts, da sie kompatibel mit bestehenden Verbrennungsmotoren sind. Die Automobilbranche ist sehr interessiert an diesen Entwicklungen, jedoch benötigen wir Schlüsselakteure wie die Politik und die Energiebranche, die das entsprechende Marktumfeld schaffen. Nur dann können die synthetischen Kraftstoffe hergestellt und verkauft werden.

Welche drei Wünsche würden Sie gerne an die Bundesregierung und an die Europäische Union richten, damit die synthetischen Kraftstoffe den Schub bekommen?

Zum einen müssen die Kraftstoffe auf die sogenannten Flottenemissionswerte angerechnet werden dürfen. Diese geben den durchschnittlichen Verbrauch an Kraftstoff einer Fahrzeugflotte sowie deren CO2-Ausstoß an. Autos mit einem geringeren oder gar keinem Ausstoß können Fahrzeuge mit einem höheren Verbrauch ausgleichen. Ein weiteres Anliegen ist die Umsetzung der europäischen Renewable Energy Directive, kurzRED II, zur Förderung von erneuerbaren Energien in nationales Recht, damit die synthetischen Kraftstoffe in Deutschland verkauft werden können. Und nicht zuletzt ist es ebenso wichtig, dass die Weichen gestellt werden, um erneuerbaren Wasserstoff bzw. die daraus erzeugten flüssigen Kohlenwasserstoffe aus Ländern wie dem windreichen Chile oder sonnenreichen Gebieten wie der Sahararegion importieren zu können. Denn um die riesigen Mengen an synthetischen Kraftstoffen herzustellen, die künftig benötigt werden, braucht es klimaneutralen Wasserstoff, der aber in diesen Volumina in Deutschland nicht hergestellt werden kann.

Die Corona-Krise hat bei vielen Menschen zu einem Umdenken in Richtung mehr Nachhaltigkeit geführt. Welche Veränderungen müssen angestoßen werden?

In der Corona-Krise bleiben wir gezwungenermaßen zuhause, aber ich glaube, dass es danach eine Pendelbewegung geben wird, in der wieder viele Menschen den großen Wunsch haben, zu reisen. Wir streben nach hoher Lebensqualität, doch müssen wir es schaffen, diese nachhaltig und klimaneutral zu erreichen. Deshalb müssen wir zum Beispiel hier – seien es nun Reisen per Auto oder Flugzeug – jetzt für nachhaltige Möglichkeiten sorgen.

Denn neben der Corona-Krise stehen wir ja vor einer viel größeren Herausforderung: dem Klimawandel. Davor schützen uns weder Händewaschen noch Abstand halten. Wir brauchen viele verschiedene Lösungen, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Inzwischen hat sich das Denken durchgesetzt, dass wir einen Technologiemix für die Mobilitätswende brauchen. Doch auch jeder Einzelne muss seine Mobilität überdenken und neu strukturieren. Für mich wäre es toll, wenn ich mit meinem Sohn in naher Zukunft mit einem Auto in den Urlaub fahre, das ich mit klimaneutralem synthetischem Kraftstoff betanke.

Ist die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung mit einer Förderung von neun Milliarden Euro der richtige Weg, um Zukunftstechnologien voranzutreiben?

Um im Bereich der Energiewirtschaft eine Transformation anzustoßen, werden große Summen benötigt. Neben der Initiative der Bundesregierung stellt die EU auch noch einmal zehn Milliarden Euro zur Verfügung. Das ist der richtige Weg, denn Wasserstoff ist im Power-to-Liquid-Prozess einer der Ausgangsstoffe zur Herstellung des synthetischen Kraftstoffs. Im Moment jedoch ist die Produktion von grünem Wasserstoff – also Wasserstoff, der mit erneuerbaren Energien produziert wurde – noch zu teuer. Wenn durch das Engagement der Politik die Preise für den grünen Wasserstoff sinken, ergeben sich auch Synergien im Bereich Power-to-Liquid.

 

Bildquelle: INERATEC GmbH

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